Archiv für den Tag: 17. April 2009

Tafeln dienen nicht der Abwälzung staatlicher Verantwortung für die Sicherung des Existenzminimums

Das Sozialgericht Bremen hat es in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren für unzulässig erklärt, einen unstreitig mittellosen Hilfebedürftigen ausschließlich auf Leistungen einer Lebensmitteltafel zu verweisen. Die Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAgIS) wurde daher zur darlehnsweisen Gewährung von Lebensmittelgutscheinen und eines Barbetrages verpflichtet, den der Antragsteller für die Begleichung des Fahrgeldes und die notwendigen Zuzahlungen bei notwendigen Arztbesuchen benötigt.

Hintergrund der Entscheidung war der Antrag auf Gewährung von Lebensmittelgutscheinen und Fahrgeld sowie die Übernahme notwendiger Arztkosten durch einen Antragsteller, der am 16.02.2009 aus der JVA H. entlassen worden war und der sich zurzeit eine Methadon-Therapie befindet, für die er Praxis- und Rezeptgebühren in Höhe von 20,00 Euro zahlen muss.

Am 24.02.2009 beantragte er bei der BAgIS eine Beihilfe für die Erstausstattung seiner Wohnung. Von der Antragsgegnerin erhielt er daraufhin einen Betrag in Höhe von 1.051,00 Euro ausgezahlt. Von diesem Betrag erwarb er entsprechende Einrichtungsgegenstände. Am 17.03.2009 sprach er bei der Antragsgegnerin mit der Begründung vor, er habe keine finanziellen Mittel mehr für seinen Lebensunterhalt. Er erhielt eine Bescheinigung für die Tafel in W., wo er noch am selben Tag Lebensmittel erhielt.
Am 19.03.2009 hat er dann den vorliegenden Eilantrag gestellt, dem die BAgIS mit der Begründung entgegen getreten ist, der Antragsteller habe bereits einen Lebensmittelgutschein für die W. Tafel erhalten. In der Regel erhielten dort Hilfebedürftige einmal in der Woche Lebensmittel. Die Ausgabe eines Lebensmittelgutscheins für einen Supermarkt komme hier nicht in Betracht, weil solche Gutscheine nur im Falle von Sanktionen 40 % aufwärts ausgestellt werden könnten. Auch die Übernahme von Fahrgeld und Arztkosten aufgrund der Substitution könne nicht übernommen werden. Fahrgeld sei Bestandteil der Regelleistung, die an den Antragsteller bereits ausgezahlt worden sei. Im Übrigen übernehme die Krankenkasse die mit der Substitution verbundenen Ausgaben. Sie verweist weiter auf einen Aktenvermerk der Antragsgegnerin vom 20.03.2009 über die persönliche Vorsprache des Antragstellers am 17.03.2009, aus der sich ergibt, dass der Antragsteller bei Bezug seiner Wohnung am 01.03.2009 eine anteilige Erstausstattung in Höhe von 766,90 Euro bewilligt bekommen hat. Die Regelleistung sei unter Berücksichtigung eines Entlassungsgeldes (610,19 Euro) in Höhe von 177,67 Euro bewilligt und per Scheck ausgezahlt worden. In dem Vermerk findet sich weiter der Hinweis, dass die Wohnung des Antragstellers komplett mit neuen Möbeln inklusive eines LCD-Flachbildschirms ausgestattet sei und ein vorrangiger Anspruch bei der Agentur für Arbeit auf Arbeitslosengeld I bestehe. In einer weiteren Stellungnahme der Antragsgegnerin zum Eilverfahren heißt es, dem Antragsteller seien unter Anrechnung des Entlassungsgeldes 284,29 Euro Regelleistung für die Monate Februar und März 2009 bewilligt worden.

Der Antragsteller hat auf telefonische Nachfrage des Gerichts erklärt, dass es tatsächlich sein Fehler gewesen sei, sich das Geld nicht besser eingeteilt zu haben. Allerdings habe er von der Antragsgegnerin keinen schriftlichen Bescheid über die Leistungsbewilligung erhalten, so dass für ihn nicht erkennbar gewesen sei, welcher Betrag für den Lebensunterhalt und welcher für die Erstausstattung vorgesehen sei. Fahrgeld bräuchte er, weil er bisher sowohl zur W. Tafel als auch zur Therapie in der Innenstadt (Tivoli-Hochhaus) von B. aus zu Fuß gegangen sei. Bei der Tafel habe er nur ein Brot, zwei Brötchen, eine Flasche Ketchup und vier Scheiben Wurst erhalten. Dies habe wohl daran gelegen, dass man eigentlich bei der W. Tafel 15,00 Euro im Monat Mitgliedsbeitrag zahlen müsse. Ohne einen Mitgliedsausweis erhalte man nur die Lebensmittel, die übrig blieben. Zum Glück habe er bei einem Bekannten mitessen dürfen. Heute Nachmittag werde er noch einmal zur Tafel gehen. Die Praxisgebühr müsse er für die Überweisung vom Hausarzt zahlen. Behandelt worden sei er diese Woche aus Medikamentenbeständen. Ihm sei aber deutlich gemacht worden, dass er ab Montag die Zuzahlungen leisten müsse. Herr Z. von der Straffälligenbetreuung hat auf telefonische Nachfrage erklärt, dass der Antragsteller mittellos sei. Er habe dem Antragsteller für die Vorsprache bei der BAgIS ein Schreiben mitgegeben, in dem um eine Erläuterung der Leistungshöhe gebeten wurde. Eine solche schriftliche Erläuterung habe der Antragsteller aber nicht erhalten. Das Sozialgericht hielt den nach § 86b Abs. 2 SGG statthaften Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für begründet.

Voraussetzung für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungs-grund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Der Antragsteller konnte sowohl das Vorliegen eines Anordnungsan-spruchs, als auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft machen.

Der Anspruch des Antragstellers folgt aus § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Kann nach dieser Vorschrift im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden, erbringt die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen.

Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind erfüllt. Der Antragsteller hat seine Mittellosigkeit glaubhaft dargelegt. Sie wird auch von der BAgIS nicht bestritten. Ein Ermessen räumt die Vorschrift der Verwaltung insoweit nicht ein. Soweit die BAgIS meint, die Gewährung von Lebensmittelgutscheinen komme nur bei einer Sanktionierung ab 40 % in Betracht, ist eine solche Verwaltungspraxis – so sie denn tatsächlich besteht – offensichtlich rechtswidrig. § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II spricht eindeutig auch von einer Leistungsgewährung als Sachleistung, was entsprechende Gutscheine einschließt.

Der BAgIS ist zuzugestehen, dass sie zu Recht darauf hinweist, die Hilfebedürftigen müssten mit den ihn gewährten Leistungen auskommen. Sie verkennt dabei aber, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit besteht. Vor diesem Hintergrund ist es unzulässig, einem unstreitig mittellosen Hilfeempfänger aus letztlich pädagogischen Gründen ein Darlehen für Lebensmittel zu verweigern.

Unzulässig ist es aber auch, den Hilfebedürftigen in einer solchen Situation auf eine Lebensmitteltafel zu verweisen, ohne sicherstellen zu können, dass dort Lebensmittel in genügendem Maße vorhaben sind und verteilt werden können. Tafeln sind ein staatliche Hilfe ergänzendes Angebot; basierend auf dem Grundsatz ehrenamtlichen Engagements. Sie dienen nicht der Abwälzung staatlicher Verantwortung für die Sicherung des Existenzminimums. Vor diesem Hintergrund kann vorliegend dahinstehen, ob der Antragsteller tatsächlich überhaupt wusste, welcher Betrag für den Lebensunterhalt vorgesehen war. Da die Antragsgegnerin telefonisch nicht mehr erreichbar war, konnte sie zu dem Vortrag des Antragstellers insoweit nicht mehr gehört werden. Ohne Aktenkenntnis konnte das Gericht auch nicht überprüfen, ob die Gewährung einer nur anteiligen Erstausstattungspauschale zu Recht erfolgte und ob die Leistungen auch ansonsten in korrekter Höhe bewilligt wurden. Allerdings ist dies auch nicht Gegenstand des Eilverfahrens.
Soweit die Antragsgegnerin meint, der Antragsteller müsse keine Zuzahlungen zu seiner The-rapie leisten, irrt sie. Nach § 61 Satz 1 SGB V hat er bei Medikamenten eine Zuzahlung zwischen fünf und zehn Euro zu leisten. Die Pflicht zur Zahlung der Praxisgebühr folgt aus § 28 Abs. 4 SGB V. Diese Zuzahlungen sind bis zur Belastungsgrenze nach § 62 Abs. 1 SGB V zu leisten, die nach § 62 Abs. 1, Satz 2, Abs. 2 Satz 6 SGB V bei Versicherten, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II erhalten, bei nicht chronisch Kranken 2 % der jährlichen Regelleistung beträgt (sonst 1 %). Diese Vorschrift ist verfassungsgemäß.
Die Barzahlung in Höhe von 60,00 € ist für die notwendigen Zuzahlungen sowie die Fahrkarten von Bremen-Nord in die Innenstadt vorgesehen. Das Gericht ist dabei davon ausgegangen, dass der Antragsteller Fahrkarten der Tarifzone II benötigt. Sollte dies nicht der Fall sein oder er für den Rest des Monats weniger Fahrkarten benötigen, steht es ihm selbstverständlich frei, diese ohnehin nur darlehensweise gewährte Leistung nicht in Anspruch zu nehmen.
Sozialgerichts Bremen, Beschluss vom 20. März 2009 – S 26 AS 528/09 ER

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